Leseprobe

 

Flirrende Sonnenflecken tanzten durch das schmutzige Fenster der Bahn, zeichneten helle, Wärme und Freundlichkeit suggerierende Flächen in das halbvolle Abteil der Bostoner Orange T Line.

Ein Zittern lief durch Fynns Körper, frierend hüllte er sich in die dunkelblaue Jacke seiner Schuluniform, obwohl es eigentlich nicht kalt war. Eng in einen der ungemütlichen Sitze gekauert schlang er die Arme schützend um den Körper, fühlte, wie ihm die stickige Heizungsluft aus dem Gebläse neben dem Fenster ins Gesicht schlug, und spürte dennoch keine Wärme in seinem Inneren.

 

In Momenten wie diesem vermisste er seine Schwester am meisten, fühlte, dass er nur noch eine leere Hülle war, die mehr tot als lebendig durch die Welt stapfte, ein Zombie, nichts weiter.

Er hatte die ganze Nacht über nicht geschlafen, und jetzt war die Müdigkeit tief in seine Knochen gekrochen, breitete sich als dumpfe Übelkeit in seinem Magen aus und drückte pochend gegen seine bleichen Schläfen. Seine Lider waren schwer. Seufzend lehnte er die Stirn gegen das Fenster, und obwohl ihn ohnehin schon fröstelte, tat die Kälte des Glases ihm gut, schien die überhitzten Gedanken zu kühlen, zu beruhigen.

 

Ein leises Summen in seiner Brusttasche jedoch schreckte ihn auf, ließ ihn zusammenzucken, als hätte man ihm einen Eiszapfen zwischen die Rippen gejagt.

Sein Puls begann zu rasen, wild drückte das Herz gegen die plötzlich staubtrockene Kehle. Mit steifen Fingern fischte er das Handy aus der Tasche. Vielleicht hätte er es ausgeschaltet lassen sollen, hätte es schweigen lassen sollen ...

Er wusste, wer der Anrufer war, noch bevor seine leicht zitternden Finger auch nur eine einzige Taste des Telefons betätigen konnten.

 

Lysander.

Natürlich. Es war der vierzehnte Anrufversuch seit gestern Nachmittag. Drei ungeöffnete SMS. Zwei ungehörte Nachrichten auf der Mailbox.

Er hätte es ausgeschaltet lassen sollen! Er wollte nicht mit ihm sprechen, konnte es einfach nicht. Nicht nach dem, was er gestern im Park beobachtet hatte.

Fynn wusste, dass er sich kindisch benahm, albern, lächerlich. Nach allem, was passiert war, hätte es ihm nicht dermaßen wehtun dürfen, Lysander mit diesem Mädchen zu sehen. Und eigentlich hatte er geglaubt, seit dem Unfall würde es nichts mehr geben, was ihn überhaupt noch berühren konnte. Aber er hatte sich geirrt. Er konnte noch immer Schmerz empfinden, und das, obwohl er nicht das geringste Recht hatte, verletzt zu sein, nicht einmal das Recht, wütend zu sein.

 

Und auch das wusste er, aber er konnte trotzdem nicht mit Lysander sprechen, nicht jetzt. Während er noch dabei war, das Telefon tief in seiner Tasche zu versenken, begann es erneut zu summen. Wieder eine SMS.

Aus einem paradoxen Impuls heraus, dem er nicht widerstehen konnte, öffnete er sie:

Wo steckst du, Fynnian Chesterfield, du verdammter Idiot? Melde dich gefälligst, ich mach mir langsam Sorgen ...

 

Fynn schaltete das Telefon aus. Verdammt! Fast hysterisch drückte er die Hand gegen die Stirn, schloss die Augen und atmete tief ein und aus, um das jähe Stechen in seiner Brust zu vertreiben.

Lysander machte sich Sorgen um ihn, natürlich, er war sein … ja, sein was eigentlich? Sein Freund? Sein Ex? Sein Ex-Freund? Fynn wusste es nicht, und der Gedanke machte es nur noch schlimmer. Ruckartig öffnete er die Augen wieder, blinzelte die aufkommenden Tränen weg, als der Zug sanft zitternd zum Stehen kam.

Bei der nächsten Haltestelle würde er aussteigen müssen, wollte er heute wenigstens noch zur dritten Stunde im Unterricht erscheinen. Und plötzlich wünschte sich Fynn, der Zug würde nie dort ankommen.

 

Lysander würde in der Schule sein. Würde auf ihn warten, ihn böse ansehen, ihn anschreien, ihn fragen, was eigentlich in ihn gefahren war. Und Fynn würde lächeln und irgendeine blöde Ausrede erfinden und so tun, als wüsste er von nichts. Als hätte er Lysander nicht gestern im Park beobachtet. Als wäre nichts geschehen.

Und es war ja auch nichts geschehen. Nichts, was ihn hätte treffen dürfen. Trotzdem war ihm plötzlich ganz schlecht vor Angst, er wollte ihn nicht sehen, wollte nicht mit ihm sprechen, ihm nicht begegnen.

 

Und so blieb er, als der Zug erneut anhielt, einfach still und erstarrt auf seinem Platz, als wären seine zitternden Glieder plötzlich am Sitz festgenagelt. Ruckelnd setzte sich die Bahn erneut in Bewegung, ein zarter, seltsam befreiender Schock zuckte durch Fynns Körper.

Er war gerade dabei, die Schule zu schwänzen und seinen Freund/Ex-Lover/Was-auch-immer unwiderruflich vor den Kopf zu stoßen, aber ... Er war frei! Für einen winzigen, lächerlichen Augenblick schien eine große Last von ihm abzufallen, ließ ihn beschwingt, leicht, fast trunken zurück.

 

Natürlich war es nichts als eine Illusion, der er sich hingab, ein winziger Augenblick, den man in unruhigen Schlummer versank, bis der Wecker erneut zu schrillen begann. Aber er fühlte sich besser, als er zwei Haltestellen später die Bahn endgültig verließ und mit leicht steifen Schritten den Bahnhof durchquerte.

Die Station lag in der Nähe einer großzügig angelegten Grünanlage, fast magisch angezogen steuerte Fynn darauf zu, kaufte sich an der Straßenecke einen Milchkaffee im Pappbecher und steckte drei Päckchen Zucker in seine Jackentasche.

 

Die Wärme des Kaffees tat ihm gut, auch wenn er schal schmeckte, nach morgendlichem Der-ganze-Arbeitstag-liegt-noch-vor-mir-Frust, nach Müdigkeit und Alltagssorgen. Fynn ignorierte die Empfindungen, die langsam seine Zunge hinabglitten und fühlte, wie er sich zu entspannen begann, während er sich auf einer Parkbank niederließ, und das Koffein und der Zucker seinen Kreislauf langsam wieder in Schwung brachten. Allmählich verblasste das Schwindelgefühl, das den ganzen Morgen über in seinem Kopf getanzt hatte. Fest schloss er die langen, weißen Finger um den heißen Becher, sog gierig die Wärme in sich auf und ließ den Blick ziellos durch den Park schweifen. Es war noch nicht viel los um diese Zeit. Ein Gartenarbeiter kehrte einige Meter weiter buntes Laub zusammen, auf einer Bank gegenüber saß eine ältere Dame und fütterte Tauben mit trockenen Brotkrümeln. Es war ruhig, friedlich. Die Luft war kühl, ließ ihn jetzt aber nicht mehr frösteln, sondern schien im Gegenteil seine Gedanken zu reinigen, zu befreien.

 

Dicht vor ihm stolzierte eine junge Mutter in hochhackigen, auf dem Asphalt rhythmisch klackenden Schuhen vorbei, ein weinendes Kleinkind hinter sich herzerrend. Die Trauer des Kindes hinterließ einen dunklen Schleier in Fynns Hinterkopf, aschgrau wie der Himmel an einem verregneten Novembermorgen. Er sah es nicht so deutlich wie das Kind selbst, mehr so wie man einen Traum sieht oder die bunten Farbflecke, nachdem man zu lange in die Sonne geblickt hatte. Seit dem Unfall waren sie noch stärker geworden, diese Erscheinungen, aber auch früher schon hatte er Menschen Farben zugeordnet, die niemand sonst wahrnehmen konnte. „Seelenschleier“ hatte Emily diese Farben genannt, für den Neurologen war es eine „synästhetische Störung“, und für manch anderen war Fynnian Chesterfield schlichtweg ein bisschen verrückt. Was auch immer es war, Fynn senkte, wie er es immer tat, hastig den Blick, und der Ascheschatten verschwand. Fynn atmete auf. Als das Kind direkt an ihm vorüberzog, hob er den Kopf und versuchte, aufmunternd zu lächeln, doch es bemerkte ihn nicht, war ganz gefangen in seiner eigenen, traurigen kleinen Welt. Den Ascheschatten sah er nicht mehr.

 

Bekümmert starrte Fynn in seinen Kaffee. Warum das Kind wohl geweint hatte? Wegen eines zerbrochenen Spielzeugs, einer verweigerten Süßigkeit? Die Tragödien der Kinder erschienen den Erwachsenen oft allzu banal und bedeutungslos. Ihr Schmerz jedoch war derselbe.

Und plötzlich kam Fynn sich selbst ein wenig wie dieses Kind vor. Auch seine eigene Tragödie war banal, ja, geradezu  lächerlich. Nach allem, was im letzten Jahr geschehen war, hätte ihn die Szene im Park nicht derart aus der Bahn werfen dürfen. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass es ihm noch immer die Kehle zuschnürte, wenn er an gestern Nachmittag dachte.