Leseprobe

 

„Vorwärts! Hier entlang!“

Grob stieß der Wächter seinem Gefangenen den Gewehrlauf in den Rücken, um ihn anzutreiben. Der Gefangene gab ein ersticktes Keuchen von sich, stolperte und musste sich trotz der Ungeduld seines Peinigers einen Moment lang gegen die kalte Steinwand lehnen.

 

Zitternd presste er die Hand gegen die Wunde in seiner Schulter, und

Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Eigentlich hätte er gar nicht mehr

am Leben sein sollen. Doch obwohl er sich sichtlich kaum mehr auf den Beinen

halten konnte, richtete er sich plötzlich kerzengerade auf, warf dem Wächter

einen verächtlichen Blick zu und sagte kalt: „Ich kenne den Weg. Ich war schon einmal hier.“

 

Mit schnellen Schritten, stolz und sonderbar würdevoll, lief er voran, bis sie den Zellentrakt erreicht hatten. Hier unten war es kalt und dunkel, nur wenige Fackeln erhellten den finsteren Gang.

 

Der Wächter öffnete wahllos eine der leeren Zellen und schob den Gefangenen unsanft hinein. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte er sich ab, und die Tür fiel krachend hinter ihm ins Schloss.

Das Geräusch traf den Gefangenen wie ein Peitschenhieb. Mit einem Mal zerbrach all seine Selbstbeherrschung.

 

Ein Zittern durchlief seinen Körper. Er wusste nicht, war es die Kälte, der

Blutverlust oder einfach nur Furcht. Kraftlos sank er zu Boden, schloss die

Augen und saß einen Moment lang reglos, lauschte auf das hektische Klopfen seines Herzens und auf den hämmernden Schmerz in seiner Schulter.

 

Vorsichtig betastete er die Verletzung, versuchte festzustellen, wie schlimm sie wirklich war. Die Kugel musste noch im Fleisch stecken, er würde sie herausholen müssen, aber er hatte nicht den Mut dazu.

So riss er nur einen Streifen Stoff aus seiner ohnehin schon zerfetzten Uniformjacke und versuchte umständlich, die Wunde damit zu verbinden. Als er fertig war, sah er sich zum ersten Mal in seinem Gefängnis um. Nicht, dass er im Licht der einzelnen Fackel, die ihm der Wächter zurückgelassen hatte, viel erkennen konnte.

 

Beunruhigt fragte er sich, wie lange es wohl dauern würde, bis die Fackel erlöschen und er in völliger Dunkelheit zurückbleiben würde. Aber vielleicht, so dachte er voll Bitterkeit, würde er diesen Augenblick auch gar nicht mehr erleben. Er konnte bereits spüren, wie die Kraft aus seinem Körper wich, wie sich eine tiefe, verführerische Mattigkeit in seinen Adern ausbreitete.

 

Würde er hier unten, allein und verlassen, in der Dunkelheit sterben? Oder würden sie ihn vorher töten?

 

Mühsam stand er auf, holte die Fackel näher zu sich heran und betrachtete sie einen Moment lang.

„Nun, holdes Licht“, flüsterte er mit belegter Stimme. „Wer von uns beiden wird hier unten wohl länger überdauern?“

 

Da krallte sich plötzlich mit scharfen Klauen die Angst in sein Herz, und um sich davon abzulenken, hob er den Blick und betrachtete seine Umgebung nun doch genauer.

Natürlich gab es nicht viel, was ihm Trost hätte spenden können. Nur kalten

Stein, feuchtes Stroh und die Ratten, die außerhalb des schwachen Lichtkreises umherhuschten.

 

Beinahe hatte es etwas Vertrautes an sich.

Trotz seiner verzweifelten Lage glitt ein Lächeln über das bleiche Gesicht des Gefangenen.

 

Ja, er war schon einmal hier gewesen, hier, in den finsteren Kerkern, tief

unten im Keller von Schloss Mirabeaux. Doch das war lange her.

 

Hatte er es verdient, hier unten zu sterben?

Vielleicht. Andere mochten das beurteilen.

Andere? Oder vielleicht nur einer?

 

Erschöpft ließ sich der Gefangene mit der Fackel in der Hand auf dem Stroh nieder, lehnte den Kopf gegen die Wand und dachte an das, was geschehen war. An den Freund, den er geliebt und verraten hatte.

 

Verraten ... Hohl hallte das Wort in seinem Kopf wider. Doch was spielte das jetzt noch für eine Rolle?

Seufzend blickte er in die Flammen, gab sich seinen Erinnerungen hin und wartete, während die Fackel in seiner Hand langsam verlosch ...